Shanghai – Der Text

Es war bereits nach Mitternacht, als auf dem Flug MU219 von Shanghai nach Frankfurt das Abendessen serviert wurde. Wie schon befürchtet war die Auswahl zwischen Chicken und Seafood äußerst deprimierend für einen Vegetarier wie mich. Aber das sollte mich weder überraschen noch enttäuschen. Schließlich hatte ich die vergangene Woche gelernt, dass Essen in China nicht allzu sehr dem europäischen Gaumen entsprach. Nichtsdestotrotz hatte ich hervorragende Mahlzeiten zu mir genommen. Das kann man wohl auch nur in Shanghai. Irgendwo hörte ich, dass die kulinarische Vielfalt in Shanghai enorm ist. Vielleicht sogar einzigartig in der Welt. Vielleicht.

Eine unglaubliche Woche liegt hinter mir. Ich überlegte mir schon diverse Adjektive, um meine Eindrücke von Shanghai beschreiben zu können. Wörter, wie unfassbar, krass, aufregend, wahnsinnig und vollkommend surreal. Ich war auf einen Kulturschock eingestellt, aber letztendlich ist Shanghai genauso gleich wie anders als Europa. Nichts ist ähnlich und doch ist alles genauso. Unwirklich wirklich. Mehr Gegensätze kann es woanders auf dieser Welt einfach nicht geben. Die reichsten, neuesten, modernsten, edelsten Hochhäuser, Restaurants, Bars, Clubs, Museen einen Schritt entfernt von dreckigen, stinkenden, hässlichen engen Gassen, in denen die ärmsten Menschen in großen Kochtöpfen Maiskolben dampfgaren. Eine Hotellobby im 87. Stock des World Financial Towers, in der man Nüsschen gereicht bekommt, sobald man etwas bestellt und ganz nebenbei einen wunderschönen Blick auf die Stadt mitnimmt. Und wenn man nachts von der Railway Station zum Hotel laufen muss, begegnet man dabei den dubiosesten und merkwürdigsten Menschen. Veramte oder vergessene Menschen, die irgendwas verkaufen wollen. Oder vielleicht sagen sie auch einfach nur irre Sätze auf chinesisch. Verstehen tut man sie so oder so nicht.

Niemand spricht englisch, fast niemand. Das Hotelpersonal im 87. Stock tut es und der Kellner der schicken Bar Barbarossa auf dem Rooftop im French Concession Viertel. Die „Hipster-Gegend“, wenn es soetwas ansatzweise geben sollte. Dort trinkt man Cocktails für acht Euro, während sonst alles so fantastisch billig ist. Eine Fahrt mit der U-Bahn für 30 Cent, eine Flasche Bier für 60 Cent, ein Haarschnitt 1 Euro, ein Mittagessen 3 Euro. Ein Expat, also ein Angestellter eines westlichen Unternehmens, der in Shanghai ein paar Jahre arbeitet, hat wahrscheinlich ein schönes Leben. Großes Einkommen, fast keine Ausgaben und wenn man es will, kann man sich komplett von der chinesischen Außenwelt abschotten und sich ein westliches Kokon bauen. Und dann würde man zurück nach Deutschland oder so kommen und denken Shanghai wäre die wundervollste und tollste Stadt überhaupt. Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit liegen soviele Fehler auf der Straße, und wer richtig hinsieht wird nur den Kopf schütteln.

Ganz davon abgesehen, dass politisch und menschenrechtlich China völlig meinen Wert- und Lebensvorstellungen widerspricht und dass ich es auch nicht einsehe, dass wir uns ob des wirtschaftlichen Einflusses und der Macht auf China zubewegen und Toleranz zeigen sollten. Denn ich möchte auf gar keinen Fall, dass diese Regierung denkt, wir würden akzeptieren, wie sie mit Demokratie, Freiheit und Humanität umgehen, wenn wir dort hinfliegen und so tun, als sei alles total super. Und auch abgesehen davon, dass es mich ein bisschen überrascht und enttäuscht hat, dass so wenig Menschen überhaupt kein Wort englisch reden oder verstehen. In Shanghai. Dieser weltoffenen „westlichen“ Metropole. Also ganz abgesehen davon gibt es große Probleme in diesem Land. Denn etwas ganz Entscheidendes fehlt den Menschen dort besonders. Ein Verständnis für Nachhaltigkeit. Sie können noch so große und moderne Skyscraper bauen, noch so schöne Gärten anlegen und Technikmuseen errichten, wenn sie nicht wissen, wie man Maschinen wartet, langfristig und dauerhaft Einrichtungen und Anlagen erhält. Nichts scheint gepflegt. Es wird neugebaut und lebt dann solange vor sich hin bis es ganz zerfällt und unbrauchbar wird. Dann wirft man es weg und baut neu. Niemand kümmert sich um etwas, weil niemand versteht, warum man das tun sollte. Oder noch schlimmer, weil niemand weiß, wie es geht.

Aber fehlende Nachhaltigkeit bedeutet auch Verschmutzung und Ignoranz im Umgang mit der Natur. Ich bin weißgott kein Umweltaktivist. Aber die Menschen haben überhaupt kein Unrechtsgefühl, wenn sie ihren Müll auf die Straße werfen oder ein weiteres Kohlekraftwerk in ein Wohngebiet platzieren. Das gilt für die großen Unternehmen, die Umweltschutz für wirtschaftliches Wachstum aufgeben, genauso wie für den Chinesen auf der Straße, der seine Essensreste auf den U-Bahn Treppen liegen lässt nachdem er dort selbiges zu sich genommen hat.

Sowieso können Chinesen immer und überall essen. In allen Lebenslagen, zu allen Zeiten und in jeder Position. In jeder noch so kleinen und dreckigen Ecke, hockend, liegend, laufend. Hauptsache essen. Das ist absurd beeindruckend. Genauso gut können sie schlafen. Egal wo und wie. Alles scheint bequem genug. Lärm, Gestank und Licht scheinen sie nicht zu stören. Chinesen stört ja meistens nicht, was andere über sie denken. Das ist auch irgendwie beeindruckend.

Nun war ich also dort. Eine Woche in Shanghai. Der Herzjunge machte meinen Aufenthalt so wunderbar wertvoll, dass ich auch nur wegen ihm sonstwohin hingeflogen wäre. Wir hatten ein schönes Hotel in einer nicht so schönen Gegend. Mit Internet und dank einer VPN-Verbindung konnten wir alles unbekümmert nutzen. Die SIM-Karte für mein iPhone, die mir der Junge besorgt hatte, funktionierte ein paar Stunden. Dann war das Guthaben wohl abgesurft und ich musste auf die WLAN Hotspots in der Stadt zurückgreifen. Davon gab es nämlich erstaunlicherweise eine Menge.

Wir aßen westliche Sandwiches im Cotton’s, Pizza und Pasta im Salabim, thailändisch im Coco, japanisch im Sheng Sushi, und selbstverständlich chinesisch im Seagull und Hot Pot im Weißnichtmehr. Es schmeckte alles sehr gut und ich bin ein bisschen stolz, dass mir Sushi ganz gut gefiel. Allerdings war das Frühstück fast schon eine Katastrophe. Unser Hotel bot ein riesiges Angebot für den chinesischen Morgenmagen, also Reissuppe, Eiernudeln, Gemüsereis, Hühnchenschnitzel, Würste, pochierte Eier. Der gemeine Europäer durfte wählen zwischen Weißbrot- und Vollkorntoast. Dazu für alle einheitlich Erdbeermarmelade. Wir aßen dort zweimal. Oder versuchten es zumindest. Entschieden uns dann aber doch zu einem französischen Bäcker zu fahren, wo es Croissants und Blaubeertäschchen gab.

Sightseeing machten wir auch. Der obligatorische Bund, einer Promenade, von der man auf das neue Viertel Pudong schauen und Fotos von der Skyline machen kann, die schon millionenfach von anderen Menschen gemacht worden sind. Aber trotzdem schön. Der Oriental Tower, das World Financial Center, der Jian Mao Tower sind die drei großen berühmten und bekanntesten Gebäude. Außerdem waren wir im Yu Garden, im City God Tempel, im Volkspark, im Century Park mit Bootsfahrt, am Hafen und vorm Gründungsgebäude der Kommunistischen Partei Chinas. Sechs Minuten zu spät, um reingelassen zu werden. So what. Wir liefen auf der Nanjing Road entlang, der notorischen Einkaufsstraße, auf der der größte Apple Store Asiens steht. Naja. Wir fuhren mit der Fähre über den Fluss, mit dem einzigen Transrapid der Erde zum Flughafen und fünfhundertfünfundfünfzig Mal mit der U-Bahn. Davon konnten wir dreimal sitzen. Wir waren auf Fake-Markets, wo scheinbar echte und offensichtlich nicht echte iPads und iPhones verkauft werden. Wir waren im Shanghai Science and Technology Museum, das uns ein bisschen enttäuschte, weil wie immer alles seit der Eröffnung vor sich hin verweilt, ohne dass jemand darauf aufpasst.

Und wir tranken chinesisches Bier, tanzten zu westlicher Musik in Hochhausclubs, genossen das House of Jazz and Blues und lernten chinesisch. Ich kann jetzt bis Hundert zählen und sagen, dass ich an der Tongji Universität studiere. (Wo zai Tongji da xue xue xi. Mit ganz vielen komischen Akzenten über den Buchstaben. Und ich studiere nicht an der Tongji Universität.) Wir versuchten sogar irgendwelchen Sinn in den Schriftzeichen zu finden oder gar Gesetzmäßigkeiten. Lächerlich. Aber wir waren ziemlich lustig unterwegs. Die Chinesen schauten uns regelmäßig irritiert an. Einige wollten Fotos machen. Wir hatten zusammen so viel Spaß und eine unglaublich intensive Woche. Darum fiel der Abschied natürlich um so schwerer. Jetzt müssen wir nur noch einmal fünf Wochen durchhalten, bis der Junge endlich zurück nach Deutschland kommt.

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